Google ist behindert – Website barrierefrei optimieren für Blinde

Google ist behindert – Website barrierefrei optimieren für Blinde

Blindenzeichen: scharze Punkte auf Gelb
Blindenzeichen: scharze Punkte auf Gelb

Gestern durfte ich an einer Weiterbildung teilnehmen, die das Aktionsbündnis für barrierefreie Informationstechnik veranstaltet hat. Thema: „Web 2.0 und Barrierefreiheit – Chancen und Herausforderungen“. Und ich muss sagen: selten habe ich so viel „kapiert“. Das entscheidende Erlebnis war der Vortrag der blinden Frau Ruzica Jokic. Sie hat nichts weiter getan, als zu demonstrieren, wie sie das Internet benutzt. Sie saß vor ihrem Laptop, dessen Bild auf eine Leinwand projeziert wurde. Für die Nutzung des Computers bzw. des Internets vertraut sie einem Screenreader. Die künstliche Stimme dieses Screenreaders war über einen Lautsprecher für uns Anwesende zu hören. Logischerweise benutzen Blinde keine Maus. Stattdessen navigieren sie ausschließlich über die Tastatur.

Wie eine Blinde durchs Internet surft

Enter-Taste, los gehts. Stimme sagt: „Zwei Prozent geladen“ – die Seite erscheint – Stimme: „100 Prozent geladen„. Dann wird der Seitentitel vorgelesen. Ruzica navigiert mit Hilfe verschiedener Tasten oder Tastenkombinationen in rasendem Tempo über die Seite. Sie hört immer nur die ersten Worte an und zack,  ab zum nächsten Punkt. Man kann mit den Augen überhaupt nicht so schnell folgen bzw. herausfinden, wo der Reader gerade ist. Die CSS-formatierten Seiten lassen nicht erkennen, in welcher Reihenfolge die Daten im Quelltext liegen.

Kann Bier fliegen? - Cartoon-Bild
Kann Bier fliegen? - Cartoon-Bild

Zunächst hört sich Ruzica die ersten Abschnitte (Tags) an. Jede Überschrift, jeder Absatz, jeder Alt-Text (eines Bildes) und jeder Link wird vorgelesen angelesen. Sie hat für uns extra die langsame Version der Screenreader-Stimme aktiviert, normalerweise hört sie es in vierfacher Geschwindigkeit. Für mich unfassbar – hatte ich doch schon bei der „langsamen“ Stimme echte Schwierigkeiten, alles zu verstehen. Um Zeit zu sparen, hört sie immer nur die ersten zwei, drei Worte ab, und tabt dann weiter. Nach zirka zehn bis zwölf Tags bemerkt sie, dass die Seite relativ lang und umfangreich ist. Sie öffnet mit einer Taste ein Fenster, in der die Überschriften der Seite aufgelistet sind. Hinter jeder Überschrift steht verzeichnet, welche „Hierarchie“ die Überschrift hat, also 1 für H1, 2 für H2 und so weiter. Durch das schneller Abklappern der Überschriften bekommt sie einen Eindruck über den Inhalt und Umfang der Seite.

Als nächstes öffnet Ruzica ein „Linkfenster“, in dem alle Links der Seite angezeigt werden. Erneut lässt sie sich die Liste vorlesen und ergänzt so ihren Eindruck über den Seiteninhalt. Ruckizucki findet sie so ein Formular, dass sie uns vorführen will. Ich war sehr beeindruckt, mit welcher Sicherheit und Geschwindigkeit auch eine Blinde das Internet benutzen kann. Das hatte ich nicht erwartet.

Wie Blinde Websites überfliegen

Ein Bild sagt: Mehr als tausend Worte. Cartoon
Ein Bild sagt: Mehr als tausend Worte. Cartoon

Der geschilderte Erlebnisbericht zeigt, dass die blinde Ruzica bestimmte Methoden hat, die sie benutzt, um Inhalt und  Relevanz einer Website zu überprüfen. Ich weiß zwar nicht, ob andere Sehbehinderte ebenso navigieren, aber ich will diesen Erfahrungsbericht einfach mal exemplifizieren. Da ist zunächst der Seitentitel, der zuerst vorgelesen wird. Er gibt den ersten, entscheidenden Hinweis, worum es geht. Als nächstes wird die Seite anhand der ersten Passagen überprüft, wie „glaubhaft“ sie ist. Stehen dort tatsächlich sinnvolle Texte, oder kann die Seite nicht halten, was der Titel verspricht? Und dann wird es interessant: Zunächst werden nur die Überschriften abgescannt. Und diese Kurz-Zusammenfassung wird durch die Liste der Links ergänzt. Es wir schnell klar, wie wichtig sauber formulierte Überschriften und Linktexte sind. Ein Linktext wie „Hier klicken“ bringt einfach nichts.

Ich hatte zwar schon vorher einige Artikel über SEO und Barrierefreiheit gelesen. Aber während des Vortrags wurde die ganze Sache plötzlich real. In meinem Kopf schoben sich zwei Bilder übereinander, die fast kongruent sind. Es gibt eine erstaunliche Übereinstimmung von Website-Kriterien, die sowohl für Behinderte als auch für Google etwas bringen hilfreich sind. Die Wichtigkeit des Seitentitels, die Bedeutung der Überschriften, die Linktexte, die Alttexte von Bildern, und vieles mehr – all das erinnerte mich plötzlich an die Ranking-Faktoren für die Google-Ergebnisseite.

Warum ist Google behindert?

Sehtest Nr. 8 - Relativ. Nur graue Punkte
Sehtest Nr. 8 - Relativ. Nur graue Punkte

Während die blinde Ruzica durch das Internet surfte, wurde mir klar: Google ist nicht nur blind, Google ist umfassend und völlig behindert – alle Kriterien des BITV („Barrierefreie InformationsTechnik-Verordnung„) deuten darauf hin: Google kann nicht sehen, Google kann nicht hören, Google kann keine Maus bedienen, Google kann eigentlich fast gar nichts – außer lesen. Nagut, Google ist kein Mensch (was im BITV selbstverständlich gefordert ist). Aber aus Sicht der Websiteoptimierung ist es vergleichbar, denke ich. Findige Suchmaschinenoptimierer versuchen, die Barrieren für Google zu minimieren, um in den Ergebnissen weiter nach vorn zu kommen. Suchmaschinenoptimierung ist im Grunde nichts anderes als Barrierefreiheit für Maschinen. Zumindest die onpage-Optimierung. Eine nach den üblichen onpage-Kriterien optimierte Website verringert in aller Regel auch viele Barrieren für Behinderte. Und wenn man schon die Seiten für Google optimiert, kann man doch auch eben noch die Maßnahmen vornehmen, die die Barrieren für behinderte Menschen abbauen. Es sind eigentlich nur noch wenige.

Konkreten Maßnahmen zur barrierefreien onpage-Optimierung

Die für Suchmaschinenoptimierung üblichen onpage-Optimierungsmaßnahmen einer Website kommen auch Behinderten, insbesondere Blinden  zugute:

  • Aussagekräftiger Seitentitel
  • Klare sematische Struktur: Gliederung durch Überschriften, Absätze und Navigationsleisten
  • Wichtiges am Anfang
  • Linktexte aussagekräftig
  • Bilder mit Alt-Texten
  • Tabellen nicht für Layout, sondern für Tabellendaten

Das ist alles bekannt. Neben diesen üblichen onPage-Optimierungen sind nach der geschilderten Erfahrung nur wenige Punkte zu beachten, um eine Seite barrierefrei(er) für (seh-) behinderte Menschen zu machen:

  • Navigationsmenüs als Listen ( <ul> oder <ol> ) aufbauen. Für Sehbehinderte sind sie dadurch als Navigationsblock erkennbar.
  • Formularfelder immer mit Label-Beschriftungen. Nur so können Sehbehinderte Formularfelder eindeutig identifizieren.
  • Immer Alternativen für Bild-Captchas anbieten. Durch diese weit verbreitete Nachlässigkeit werden Sehbehinderte aus einer Community ausgegrenzt, obwohl sie in vielen Bereichen sicherlich spannende Erfahrungen einbringen könnten.
  • Bei „Schmuckbildern“, die nur dem Design dienen, den Alt-Text leer lassen, nicht weglassen. Also „alt=““. Dann wird dieses Element von Screenreader übergangen. Wenn man den Alt-Text weglässt, liest der Reader „Grafik: Url blablabla.jpeg“. Das nervt.
  • Ajax-Lösungen immer nur als Alternative einer „Standard-Variante“ anbieten. Test: JavaScript deaktivieren.
Blindenzeichen: Schwarze Punkte auf gelb. Bild zum Artikel: Barrierefreiheit für Mensch und Maschine
Blindenzeichen: Schwarze Punkte auf gelb. Bild zum Artikel: Barrierefreiheit für Mensch und Maschine

Kann eine Website für Blinde schön sein?

Zurück zu dem Vortrag: schon nach ein paar Minuten rauchte mir der Kopf von dem hektischen Gesabbel der künstlichen Stimme. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass man so Spaß am Internet haben könne. Glücklicherweise konnte ich mich anschließend noch mit Ruzica darüber unterhalten. Die Benutzung des Internet bietet für Blinde nicht nur in praktischer Hinsicht mehr Lebensqualität. Zu meiner Überraschung kann eine Blinde auf einer Website auch ästhetische Erfahrungen machen. Und zwar nicht nur in Bezug auf den Text, sondern auch in Bezug auf die Seitenstruktur. Je übersichtlicher klarer und deutlicher sich eine Seite im Schnelldurchlauf darstellt, um so mehr macht es Sehbehinderten Spaß, sich dort weiter aufzuhalten. Der vor einiger Zeit im Webstandard-Blog diskutierte „Gute Code“ ist also (auch) für Sehbehinderte und Blinde ein echtes Qualitätsmerkmal. Zwar nicht der Code direkt (den sie natürlich in aller Regel nicht beachten), sondern eben die semantische Struktur aus Überschriften, Links, Formularen etc. Und wenn Google blind ist, und Blinden eine gute semantische Struktur gefällt, dann wird das Google auch gefallen…

Schöne Bilder - Aquarell mit Marilyn Monroe
Schöne Bilder - Aquarell mit Marilyn Monroe

Wegen des erlebten Vortrages habe ich mich hier überwiegend auf Blinde oder Menschen mit Sehbehinderung bezogen. Für andere Behinderungen gibt es weitere Maßnahmen, die die Barrieren einer Website verringern. So ist es für Menschen mit eingeschränkter Motorik sinnvoll, Bedienelemente nicht zu klein zu gestalten. Allerdings scheint das eher eine Frage der Übung zu sein. Bei einer Vorführung mit einer Kopfmaus konnte auch ein ungeübter Teilnehmer ganz „normale“ Websites relativ gut bedienen. Bei Menschen mit Hörbehinderung stellt sich das Problem erst dann, wenn man audio-Elemente benutzt.

Ich hoffe, es fühlt sich niemand durch den Vergleich mit einer Maschine gekränkt.

Weiterführende Artikel und Websites

20 Gedanken zu „Google ist behindert – Website barrierefrei optimieren für Blinde

  1. Das ist ein guter und nützlicher Beitrag, der vielen die „Augen öffnen“ dürfte, wie das Internet und Kommunikation mit „geschlossenen Augen“ funktioniert und wie gut es nutzbar ist – wenn denn die Entwickler der Websites ein bisschen darüber nachdenken.

    Meine Erfahrungen decken sich recht genau mit der Vermutung: Ist eine Seite Barriere-arm (Barriere-frei gibt es meiner Meinung nicht), wird sie auch von Menschen ohne Einschränkungen gut oder gar besser angenommen.

    Danke!

  2. gerade in einem Bericht über Barrierefreiheit sollte man sich vielleicht überlegen, durchgestrichene Passagen auch als solche zu kennzeichnen – und nicht nur per CSS entsprechend zu formatieren.
    HTML kennt dafür das Element , das im Browser standardmäßig entsprechend dargestellt wird, aber auch semantisch die richtige Botschaft trägt.

  3. Das ist nach langem mal wieder ein richtig guter Artikel über Suchmaschinenoptimierung. Wenn ich ehrlich bin habe ich mir nie gedanken darüber gemacht, wie ein blinder Mensch eine Seite sieht. Und ganz ehrlich, wie man eine Seite für Google optimiert steht hier echt außen vor. Hier geht es tatsächlich mal um die Seitenoptimierung für den Menschen. Find ich gut, das sind Ansätze, von denen ich gerne mehr hören würde.

    Gruß
    TeDi

  4. Pingback: Ron’s Blog » Blog Archive » Was ist SEO? Wie wichtig ist SEO?
  5. Sehr spannender Beitrag – hatte ich verpasst. Funny auch weil ich mit dem Gedanken spiele ein Post zum Thema Nutzer die du nicht kennst zu schreiben. Themen wie Farbenblindheit, die laut Wikipedia ca. 8,3 % aller Menschen betrifft aber auch Legasthenie etc. sollen Erwähnung finden. Ein wichtiger Aspekt der nur all zu oft ignoriert wird.

  6. Super Artikel, der SEO mit einer ganz anderen Herangehensweise zeigt. Vielen Dank!

  7. Das waren noch Google-Zeiten :) Schlimm genug, das Seo immer noch nach alten Richtlinien arbeiten…

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